Radikalisierung und Risikofaktoren

 

Die Radikalisierung vor allem junger Menschen macht Angst. Kaum verständlich, wie etwa aus zuweilen angepassten Jugendlichen plötzlich religiöse Fanatiker oder rechtsextreme Gewalttäter werden, die auch vor den brutalsten Taten nicht zurückschrecken. Die Gründe für eine Radikalisierung sind komplex und regelmäßig handelt es sich um einen Prozess, der jedoch von bestimmten Risikofaktoren beeinflusst und beschleunigt werden kann. Diese zu kennen ist wesentlich, um mit effektiven Präventionsmaßnahmen gegensteuern zu können.

 

Die Zahl der sogenannten "Gefährder" („Eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung [...] begehen wird“, BKA) wächst. Dazu erklärte BKA-Präsident Holger Münch im Januar 2018 im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung": „Wir haben eine Verfünffachung der Gefährder-Zahlen in den letzten vier Jahren […] und zählen inzwischen mehr als 10.800 Salafisten in Deutschland. […] Die Zustimmung von Schülern zu rechtsextremen Einstellungen befindet sich auf einem hohen Niveau. Außerdem treffen rund acht Prozent der befragten muslimischen Schüler zustimmende Aussagen über den sogenannten Islamischen Staat. Wir haben hier also Radikalisierungsrisiken – wir dürfen in den nächsten Jahren nicht nachlassen und brauchen auch weitere Anstrengungen im Bereich der Prävention.“

 

Verlockende Zugehörigkeit

Jugendliche, die sich radikalisieren, scheinen zunächst völlig verschieden. Sie stammen aus ganz unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Schichten. Dennoch zeigen sie einige Gemeinsamkeiten. Es handelt sich mehrheitlich um entwurzelte und orientierungslose junge Männer, die nach Halt suchen. Vielen von ihnen fehlen in ihrem Umfeld Gefühle der Zugehörigkeit und Anerkennung. Sie sind auf der Suche nach Regeln und Orientierung, die  sie in einer Gesellschaft und in einer Lebensphase, die immer weniger Struktur vorgibt und in der sie zugleich immer mehr Verantwortung tragen sollen, schmerzlich zu vermissen scheinen. Für diese überforderten Jugendlichen kann etwa eine islamistische Gruppierung, die nahezu alles vorgibt, das Leben strukturiert und starr regelt, die ein Gemeinschaftsgefühl unter „Brüdern“ und „Schwestern“ predigt, verlockend sein. Hier können sie Verantwortung abgeben und müssen nicht selbst entscheiden, was zu tun ist, was richtig oder falsch ist. Die Szene kann zu dem Anker werden, den Jugendliche mit sozialen und emotionalen Defiziten verzweifelt suchen. Dann wird der radikale Islam nicht nur zur neuen Religion und Überzeugung, die Andersdenkende ausschließt, sondern zur neuen Identität. Es ist die Sehnsucht nach emotionaler Bindung, die besonders Ideologien unter dem Deckmantel der Religion zu stillen vermögen. Aber auch andere extremistische Gruppierungen nutzen die Wünsche junger Menschen nach Zugehörigkeit, um Mitglieder zu rekrutieren.

 

Ohnmacht in Macht verwandeln

Auffällig ist, dass radikalisierte Jugendliche besonders häufig zu den jungen Menschen gehören, die sich als perspektivlos erleben. Und wer nichts zu verlieren hat, überschreitet eher Grenzen. Die hessische Polizei hat unter wissenschaftlicher Begleitung des Hessischen Kompetenzzentrums gegen Extremismus (HKE) die Lebensläufe und Akten von insgesamt 23 Islamisten ausgewertet, die aus dem Rhein-Main-Gebiet ausgereist waren. Die Ergebnisse zeigten, dass 17 der Ausgereisten unter 25 Jahre alt waren, vier davon sogar minderjährig. Neun der Ausgereisten waren Schüler und bei vielen zeigten sich auffällig schlechte Schulleistungen und lange Fehlzeiten. Diejenigen, die nicht mehr zur Schule gingen, lebten meist von Arbeitslosengeld, hatten Aushilfsjobs oder waren in Jobmaßnahmen untergebracht. Keiner hatte eine solide berufliche Basis. Etwa die Hälfte der Ausgereisten war zudem in kriminelle Aktivitäten verstrickt, u.a. in Eigentumsdelikte und Gewaltdelikte. Es waren fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund betroffen – nur bei einem Ausgereisten war dies nicht der Fall. Ohne Perspektive wählen sie die Offensive als vermeintlich einzige Möglichkeit, sich doch noch als handlungswirksam zu erleben. Besonders diejenigen, die gewissermaßen nichts zu verlieren haben, die Konsequenzen nicht fürchten und in einer Mischung aus Aussichtslosigkeit, eigenen Gewalterlebnissen, Ausgrenzung und Ohnmacht gefangen sind, sind gefährdet, ihre Machtlosigkeit auszuagieren. Richard Benda, Journalist und ehemaliger Chefinspektor bei der Wiener Kriminalpolizei, schrieb schon im Jahr 2009 ahnungsvoll: „Die Gefahr, dass sich die verarmte Masse nicht individueller Kriminalität zuwendet, sondern durch radikale Gruppen geschürt, gewalttätigen Ausschreitungen und Pogrome gegen angebliche Verursacher des Elends veranstaltet, ist das wirkliche Problem.“

 

Faktor Internet

Das Internet ist das Kommunikationsmedium der Jugendlichen. Radikale Gruppen wissen und nutzen das. Schnell und effektiv können sie hier besonders junge Menschen für sich und ihre Interessen gewinnen und neue Mitglieder rekrutieren. Soziale Medien werden zum Transport – und Legitimationsmittel für Gewalt gegen Andersdenkende. „Die Bandbreite an Gewaltbeiträgen im Netz ist groß. Sie reicht vom Aufruf zum bewaffneten Dschihad bis hin zur expliziten Abbildung von Tötungshandlungen und deren Folgen. Mit drastischen Videos, wie sie der Islamische Staat in großer Zahl veröffentlicht hat, wird die eigene Macht über die 'ungläubigen Feinde' demonstriert“ (jugendschutz.net: „Islamismus im Internet“ 2015, S. 14). So können gewaltverherrlichende Inhalte im Internet gleichsam als Brandbeschleuniger wirken, die insbesondere psychisch labilen oder traumatisierten Einzeltätern, die schon im Vorfeld voller Wut waren auf eine Gesellschaft, die sie ausgrenzt, Rechtfertigung, Legitimation und sogar konkrete Handlungsanweisungen bieten. Aber nicht nur Islamisten, auch die rechtsextreme Szene ködert Jugendliche im Netz. Rechtsextremes Gedankengut unterwandert vor allem Musik- und Videokanäle im Internet. „Musik spielt in der rechtsradikalen Szene eine zentrale Rolle für die Ideologisierung Heranwachsender. Die Jugendlichen konsumieren online Lieder und Texte beispielsweise über die Plattform YouTube und eignen sich die rechtsradikalen Inhalte oft ohne großes Nachdenken an“ (Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet: „Radikalisierung Jugendlicher  über das Internet?“ 2016, S. 26).

 

Diskriminierungserfahrungen

Eine Studie der Jacobs University Bremen in Zusammenarbeit mit der University of Maryland („Der Kampf um Zugehörigkeit: Die Marginalisierung von Immigranten und das Risiko einer hausgemachten Radikalisierung“) wollte wissen, warum es junge Menschen gibt, die sich als Kämpfer am „Dschihad“, dem sogenannten Heiligen Krieg beteiligen, Attentate planen und ausführen. Einer der Schlüsselfaktoren für das Abgleiten von muslimischen Immigranten in die Radikalität sei die Frage der kulturellen Zugehörigkeit. Besonders gefährdet seien diejenigen, die kulturell heimatlos seien, die sich weder mit der vorherrschenden Kultur ihrer Herkunftsländer noch mit der ihrer Ankunftsländer identifizieren. Dieser Prozess der Marginalisierung verschärfe sich, je mehr diese Personen ausgegrenzt werden, sich diskriminiert fühlen und den Verlust von persönlicher Bedeutung erfahren. Radikale Gruppen seien für diesen Personenkreis attraktiv, weil sie nach dem Freund-Feind-Schema ein klares Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. Je stärker die Teilnehmer sich diskriminiert fühlten, desto weniger waren sie bereit, die Werte ihrer Herkunftsländer zugunsten der in ihrer neuen Heimat vorherrschenden zurückzustellen. Wer ausgegrenzt wird, erlebt sich als minderwertig und hat das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Ein unerträgliches Gefühl der Ohnmacht macht sich breit und die soll endlich verschwinden. Wenn das Gefühl der Akzeptanz langfristig verletzt werde, schmerze dies neurobiologisch nachweisbar genauso wie körperlich zugefügter Schmerz und kann sich zeitversetzt als Gewalt äußern – wie bei einem Schüler im Sportunterricht, der nach einem verpatzten Pass ausgelacht wird und bei passender Gelegenheit nach einem anderen tritt, erklärt der Mediziner, Neurobiologe und Psychotherapeut Professor Dr. Joachim Bauer. Wer sich diskriminiert fühlt, wird gleichzeitig offener für alternative Angebote von Freundschaft und Akzeptanz am Rande der Gesellschaft. „Hier setzen die djihadistische Gruppe und ihre charismatische Führungsfigur an. Sie bieten den Entwurzelten und Ausgegrenzten klare Regeln und einfache Feindbilder, einen festen Platz in der neuen Gemeinschaft Gleichgesinnter und die Wiederherstellung der verletzten Ehre durch den Einsatz für eine vermeintliche gerechte Sache“, so das Institut für Islamfragen. Das Institut führt eine Studie des New Yorker Police Departments („Radicalization in the West: The Homegrown-Threat“ 2007) an, nach der zu den besonders gefährdeten Personen Menschen gehören, die „sich häufig als unerwünschte Fremdkörper der Gesellschaft“ wahrnehmen oder von einer tiefen Frustration geprägt sind, weil sich bei ihnen das Gefühl verstärkt, niemals als Einheimische akzeptiert zu werden. Danach folgt auf Ablehnung und Rückzug zunächst eine verstärkte Identifikation mit radikalen Überzeugungen, zu deren Verteidigung Gewalt als legitimes Mittel gehört. Schließlich kommt es zum sogenannten „point of no return“, an dem die Ausführung bzw. Planung eines Anschlags konkret wird.

 

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei betont, dass es nicht darum geht, Verhalten und Überzeugungen radikalisierter Jugendlicher zu entschuldigen. Vielmehr geht es darum, einen Einstellungswandel zu erklären, zu verstehen und nachzuvollziehen, damit Präventionsbemühungen an den richtigen Stellen und möglichen Defiziten ansetzen können.